Die Formel 1 der Antike
Gigantische Arena-Spektakel wie «Ben Hur Live» und «Walking with Dinosaurs» nehmen es mit Kino und Fernsehen auf
von Christian Hubschmid
Plötzlich bricht die Achse. Der Streitwagen fliegt durch die Luft. Der Lenker wird von den Pferden weitergeschleift, bis er sich überschlägt und regungslos liegen bleibt. Ein Sanitäter eilt herbei.
Vieles ist echt an der «Ben Hur Live»-Show. Die handgeschmiedeten Stahlschwerter der Gladiatoren klirren scharf, die Vierspänner jagen im vollen Galopp durch die Arena. Für das bombastische Spektakel wurde sogar ein neues Wort erfunden: «Monutainment». Macht sich die Unterhaltungsindustrie auf, das Kino mit seinen eigenen Waffen zu schlagen?
«Ich wünsche mir, dass die Show wie der Film eine Legende wird. Fünfzig Jahre lang soll sie gespielt werden.» Franz Abraham ist der Produzent des anachronistisch anmutenden Unternehmens. Der 45-jährige Bayer spielt Feldherr über Gladiatorenkämpfe und Wagenrennen, die so authentisch werden sollen, wie es sie seit dem Circus Maximus in Rom nicht mehr gab. Dabei sieht Abraham nicht gerade martialisch aus. Mit seinen adligen Gesichtszügen und seiner Nicht-ganz-von-dieser-Welt-Windfrisur gleicht er einem filigranen Dirigenten. Tatsächlich ist der Pionier des pubikumswirksamen Musiktheaters ein Freund der Klassik. Seine Freiluft-«Aida» hat er von Paris bis Abu Dhabi gezeigt, in Rio haben 150 000 Menschen seiner «Carmina Burana» zugejubelt. Aber er hat auch eine Schwäche für gefährlichere Hobbys.
Als Junge wollte der studierte Philosoph Rennfahrer werden. Er trat in die Fussstapfen seines rennsportverrückten Vaters, der auf dem Hockenheim ums Leben kam, und kämpfte sich bis in die Formel 3 vor. Dann der Unfall in einer Nebelnacht, der ihn seine Karriere - und beinahe seinen Kopf - kostete. Zusammengeflickt blieb ihm nur die Liebe zur Musik, die er von seiner Mutter, einer Pianistin, geerbt hatte. Und die er mit ebenso kühner Leidenschaft auslebte. David Bowie und die Rolling Stones gehörten bald zu den Kunden seiner Agentur Art-Concerts.
Heute ist Franz Abraham sichtlich nervös. Neun Tage vor der Uraufführung in London steht
eine doppelte Premiere bevor: der erste volle Durchlauf - und erst noch vor Publikum.
500 Tonnen Sand und über 50 Kilometer Kabel
Mehrere Hundert Kinder aus dem Ruhrgebiet werden in die König-Pilsener-Arena in Oberhausen gekarrt. Zum ersten Mal wird das spezielle Lautsprechersystem, das auf jedem Sitzplatz Dolby-Surround-Effekt garantieren soll, an lebendigen Leibern getestet. Zum ersten Mal sieht die Öffentlichkeit die Quadriga-Gespanne über die ausgeklügelte Sand-Textil-Mischung stieben. «Aber schreiben Sie um Gotteswillen keine Kritik», schärft Abraham ein, «es fehlen noch 350 Kostüme.»
350 Kostüme - ein Klacks. Es fällt in dieser Materialschlacht kaum auf, dass ein paar Sklaven noch in Nike-Turnschuhen unterwegs sind. 500 Tonnen Sand liegen in der Arena, über 50 Kilometer Kabel halten die vielen Tonnen Ton- und Lichttechnik in der Schwebe. 65 Laster stehen draussen bereit, um die Galeeren, Tempelsäulen und Marmorbrunnen nach London, Zürich und Budapest zu transportieren. Zwei Shows pro Stadt müssen ausverkauft sein, damit es rentiert, sagt Abraham. Es gibt keinen grossen Investor, keine öffentliche Hand, die das Risiko mitträgt. Jeden Euro des 6-Millionen-Budgets hat Abraham zusammentelefoniert.
Jetzt nimmt Abraham ein Mikrofon und schreitet in die Arena. Dem kindlichen Publikum erzählt er die Geschichte vom jüdischen Prinzen Judah Ben Hur, der auf eine Galeere verbannt wird und sich an seinem ehemaligen Freund rächen will, am Ende aber doch erkennt, dass Vergebung stärker ist als Hass. Abraham hat den vorgedruckten Pressetext vor sich, schweift aber immer öfter ab und holt immer weiter aus. Er schwadroniert vom Niemals-aufgeben-Dürfen und vom Sinn von Niederlagen, als wäre er nicht der Eventmanager eines kommerziellen Unterhaltungsunternehmens, sondern ein von seiner Mission getriebener Priester. Die Pressefrau, die den Text geschrieben hat, rauft sich die Haare.
Anti-Fernsehen, zum Greifen nah, langsam und sinnlich
Er sei tief religiös, bayerisch katholisch, erklärt Abraham später. Rennfahren sei noch immer seine grösste Leidenschaft, aber er sei nie mehr an einem Autorennen gewesen. Er halte es emotional einfach nicht aus. Ist Ben Hur also die Erlösung von einer teuflischen Besessenheit, ein therapeutisches Passionsspiel? «Die Spiritualität der Geschichte liegt unter der Oberfläche», sagt Abraham nur. «Der Film von 1959 hat sie eher verdeckt. Wir wollen nach ihr graben.» Ob dies gelingt, dürfen wir nicht verraten. Aber schon mal so viel: Die Effekte allein machen gläubig. Die märchenhaften Kostüme zaubern orientalischen Glamour herbei. Der Soundtrack von Stewart Copeland - Schlagzeuger von The Police - vereint die Wucht rammender Galeeren mit der Sensibilität eines antiken Begräbnisses. 400 Juden, Gladiatoren und Sklaven bewegen sich nach Broadway-Methoden in Basar, Fest und Schlacht. «Das Ben-Hur-Spektakel bietet den Reiz des Filmepos - in der Hälfte der Zeit», lobt schon mal die «Times».
Ben Hur nach Abraham-Art ist Anti-Fernsehen. Zum Greifen nah, langsam, sinnlich. Es stinkt nach Rauch und Schwefel, schwitzende Tänzer und Schauspieler schieben die Galeeren über den Sand, mit Ausnahme des Erzählers wird ausschliesslich lateinisch und aramäisch gesprochen. Und der Kitzel eines Unfalls fährt immer mit.
«Jeder Stuntman ist für seine eigene Sicherheit verantwortlich», erklärt Abraham. Der Unfall vom Anfang war gespielt, der Überschlag des Wagenlenkers nicht. Er habe einen Fehler gemacht, sagt Abraham. Pferdeflüsterer Nicki Pfeifer hat den Pferden beigebracht, im scharfen Galopp die Kurve zu kriegen. Ein Adler, zwei Falken und fünfzig Tauben flattern ebenfalls dressiert herum. Aber Tiere bleiben Tiere. Für den zweiten Durchlauf muss das Wagenrennen abgesagt werden. Die Pferde brauchen Schonung.
Und der Wagenlenker? Hat nur eine blutige Nase. Also wieder ab in die Arena!
Ben Hur Live: Zürich, Hallenstadion, 13., 14. November
Publiziert am 13.09.2009