dimanche 2 août 2009

Hochsaison in der Schweinebucht (Panorama, NZZ Online)

Wildes Treiben im Nudistencamp an der Côte d'Azur


Von David Signer

Die Schweiz hatte dieses Jahr viel zu leiden unter den Blüttlern. Erst die Nacktwanderer im Appenzellerland und dann die Swinger im Tessin, die sich unter die harmlosen FKK-ler an der Melezza mischten und so intensiv vergnügten, dass eine «Füdlipolizei» («Blick») gefordert wurde. Es ist den besorgten Bürgern zu wünschen, dass sie sich nie nach Cap d'Agde verirren.

Dort befindet sich die grösste Nudisten-Zone Europas. Etwa 40 000 Unbekleidete pilgern jeden Sommer ins «Quartier Naturiste». In Cap d'Agde lässt sich im Grossen beobachten, was an der Melezza en miniature geschah: die Unterwanderung der traditionellen FKK-Anhänger durch die frivolen Neo-Nudisten.


Um solch übler Nachrede entgegenzutreten, taten die Naturisten zunehmend so, als sei die sexuelle Funktion der entblössten Genitalien nur eine schamlose Unterstellung. So kamen die klassischen FKK-ler in den Ruf von dünnlippigen Lustfeinden, die Mitgliederzahlen ihrer Vereine schrumpften.

Soziales Todesurteil

Ein herkömmliches FKK-Dorf ist ja etwas vom Prüdesten, das man sich vorstellen kann. Eine sexuelle Re- gung führt zum sozialen Todesurteil. «Nacktheit ist natürlich», plädierten die Anhänger der Freikörperkultur seit hundert Jahren. Sie wehrten sich gegen die Sexualisierung der Nacktheit. Es ging ihnen um Luft, Licht und einen naturgemässen Lebenswandel, wozu oft auch vegetarische Ernährung gehörte. Nicht selten wurden sie jedoch der Heuchelei verdächtigt. Die bekleideten Bürger nahmen an, trotz gegenteiligen Beteuerungen würde es hinter den Zäunen der FKK-Feriensiedlungen orgiastisch zu und her gehen.

Auch in Cap d'Agde gibt es diese Szenen: Männer, nur mit Flipflops bekleidet, die im Spar in der Metzgereiabteilung stehen und die frischen Koteletts begutachten, splitternackte Frauen, die mit einem Baguette zwischen schweissnassen Oberarm und Busen geklemmt nach Hause joggen. Männer unten ohne auf einem Velosattel verbreiten eine gewisse Komik, die Warteschlange von Splitternackten am Selbstbedienungsbuffet kann einem den Appetit verderben, und wenn Nackedeis Pingpong oder Beachvolleyball spielen – ein einziges Baumeln, Hüpfen und Wippen. Diese Art Reformhaus-Nudismus mag amüsant sein; sexy ist er definitiv nicht.

Wie gesagt, auch das gibt es noch in Cap d'Agde. Aber im Prinzip haben die Hedonisten übernommen. Vor allem im Strandabschnitt mit dem schönen Namen «baie des cochons» («Schweinebucht», von deutschen Touristen in «Schweinchenstrand» übersetzt) fühlt man sich wie auf dem Set eines Pornofilms. Solange die Sonne noch brennt, treiben es die Gäste im Meer.

Kein Detail verpassen

Kommt man am Nachmittag an, erkennt man den Schweinchenstrand schon von weitem an den Menschentrauben im Wasser. Es handelt sich dabei nicht um Fischer, die gemeinsam ein Netz an Land ziehen, sondern um Voyeure. Sobald nämlich ein Paar (oder auch gelegentlich mehr als zwei) beginnt, intim zu werden – was in der Hochsaison fast nonstop vorkommt –, strömen die Schaulustigen zusammen und drängeln wie beim Wühltisch im Schlussverkauf, um ja kein Detail zu verpassen.

Meist sagt der Mann am Ende dann höflich «merci», «danke» oder «thank you» zur Frau, und wenn die Performance besonders eindrücklich war, gibt es Applaus. Und schon geht es irgendwo anders weiter.

Neigt sich die Sonne zum Horizont, verschiebt sich die Aktivität zu den Dünen. Dank der unübersehbaren Ansammlung von Voyeuren ist es unmöglich, irgendetwas zu verpassen. Der Rückzug hinter den Strand mag damit zusammenhängen, dass die Polizei bis letztes Jahr Sex unter freiem Himmel noch scharf ahndete. Hoch zu Pferd patrouillierten die Uniformierten und erstickten jedes Feuer, bevor es richtig loderte. Dieses Jahr sind keine Flics zu sehen. Die einzigen Bekleideten sind die Glaceverkäufer und die obligaten Afrikaner mit ihren Sonnenbrillen.

Viele der Nudisten kommen seit Jahren. Meist sind es Ehepaare, die hier dem «échangisme» frönen, dem Partnertausch. Einige der nahtlos gebräunten Gäste sind sehr alt. Eher Cap d'Age als Cap d'Agde. Wie Schildkröten schleppen sie sich über den Sand, auf der Suche nach einem letzten Kick. Es ist unglaublich, wie viele Menschen ihren Körper schmücken. Opa mit Brustwarzenpiercing über dem Schwabbelbauch, Oma ein Drachen-Tattoo auf dem faltigen Rücken.

Sex mit jedem und überall

Eigentlich wollte man es gar nicht so genau wissen, und man fragt sich, was das vielbeschworene Wort «natürlich» eigentlich bedeutet. Postuliert man, Nacktheit sei natürlich, kann man natürlich auch behaupten, öffentlicher Sex sei natürlich. Aber trotz allem beruht der Reiz der Strandorgien nicht auf ihrer Natürlichkeit, sondern auf dem Überschreiten des Normalen, sonst würden ja nicht alle zuschauen. Dieser Reiz des Neuen – Sex mit jedem und überall – nützt sich auffällig rasch ab. Sicher ist Cap d'Agde lustiger als Saudiarabien; aber ganz ohne Grenzen und Geheimnisse wird das Vergnügen bald einmal schal. Auf die Länge könnte einem in der «baie de cochons» der Sex glatt verleiden.

Doch das ist erst das Vorspiel. So richtig wird die Sau nach dem Eindunkeln rausgelassen. Kaum ein Klub, in dem nicht «sexy tenue» vorgeschrieben ist. An Boutiquen mit Leder- und Latex-Outfit mangelt es nicht, und so gleichen die Pirschwege im Naturisten-Quartier nachts einer Mischung aus Street Parade, Rotlichtviertel und Geriatrieabteilung. Die Klubs – nonchalant «discos libertins» genannt – tragen so vielversprechende Namen wie «Histoires d'O» oder «Jeu de Mains» und bieten neben der Tanzfläche oft gleich auch noch Buffet à discrétion, Sauna, Swimmingpool, Reizwäsche-Defilees oder – für die Liebhaber der härteren Gangart – Gangbang und Fesselspiele an.

Letztes Jahr brannten die bekannten Etablissements «Palme Ré» und «Glamour» ab. Heftig wurde spekuliert: War es die Mafia? Ging es um Versicherungsbetrug? Oder war den traditionellen Naturisten der nichtvorhandene Kragen geplatzt? Von den «Nudisten-Mullahs» war in einer Zeitung die Rede, die in Cap d'Agde wieder Zucht und Ordnung à la guter, alter FKK herstellen wollten. Aber dieser Zug dürfte abgefahren sein. Die Klubs wurden längst wiederaufgebaut, noch grösser als vorher. Offiziell handelte es sich bei den Bränden um Unfälle. Daran glaubt selbstredend kein Mensch. Aber die Politiker hüten sich, irgendetwas gegen die Libertins zu sagen. Sie bringen viel Geld. Schon der Zutritt ins Quartier kostet.

Hie und da gibt es schon Kopfschütteln unter der Bevölkerung. Der Taxifahrer spricht vom «Zoo», der Hotelier von einer «Fleischauslage». Gelegentlich kommt es im ersten Strandabschnitt, der mehrheitlich von klassischen FKK-lern mit Kindern frequentiert wird, zu Ordnungsappellen, wenn ein Pärchen allzu zärtlich wird. Oft sind es lustigerweise junge Eltern, die ältere Paare zur Räson rufen mit dem Spruch: «Geht doch bitte zum Schweinchenstrand!» Aber im Prinzip herrscht eine friedliche Stimmung. Nicht umsonst heisst ein Klub «Jardin d'Eden»: Man versucht, eine Idylle, ein Utopia der Toleranz und der Freiheit zu leben. Vor dem Sündenfall.

Ausgerechnet Charles de Gaulle war es, der Ende der sechziger Jahre die touristischen Grossbauten initiierte. Er war es leid, dass all die französischen Sonnenanbeter in den Sommerferien ins Ausland pilgerten. Was würde der gestrenge General wohl sagen, sähe er seine «chers compatriotes» heute am Strand mehrschichtig übereinanderliegen wie Crèmeschnitten oder am Abend mit Kettenhemden oder Latexanzügen, die das freilassen, was Kleider normalerweise im Minimum verbergen, durch die Gassen ziehen?

Ganz zu schweigen von den zwei Frauen, die ein Schild vor sich ausgestellt haben des Inhalts: «Auswahl: Kuss auf die Brüste oder den Hintern. Wir beissen nicht.» Oder die etwa Fünfzigjährige mit der Mitteilung: «Hätte heute Abend um 18 Uhr Zeit.» Beide Ausschreibungen stiessen übrigens auf auffällig wenig Interesse. Auch die freie Liebe hat in Cap d'Agde nämlich, entgegen dem ersten Anschein, ihre Regeln.

Das sieht man an den Preisen für die Klubs. Paare haben meist freien Eintritt, dann folgen die Singlefrauen, am teuersten wird es für Singlemänner. Auch Swingen ist ein Markt, ein Tauschgeschäft, selbst Libertins-Pärchen bleiben gerne unter Ihresgleichen. Von Belästigungen, Vergewaltigungen oder unkontrollierten Ausbrüchen hört man in Cap d'Agde selten. Trotz oder gerade wegen der Promiskuität geht es auf gewisse Art gesittet, vorhersehbar zu und her.

Ghettos mit eigenen Gesetzen

Das könnte für die Schweizer Politiker, die sich im Tessin und Appenzell so echauffierten über die «Grüsel», ein Trost sein: Auch die wildesten Sexmaniacs neigen zu Gruppenbildung und formen Ghettos mit eigenen Gesetzen. Andererseits: Was heute in Cap d'Agde als Kopulierdampfwalze daherkommt, begann mit ein paar niederländischen Campern.

Wehrt man nicht den Anfängen, wird der Hohe Kasten in ein paar Jahren vielleicht auch von Tausenden von Erotomanen überrannt, im Sämtisersee wälzen sich überhitzte Fetischisten, am Abend stampft es aus jeder Beiz in Brülisau «I'm a Sex Machine», und eine Armada von mittelalterlichen Österreicherinnen in Lackstiefeln nimmt das «Rössli» und die «Bollenwees» in ihre Schenkelgewalt.

Sobald ein Paar beginnt, intim zu werden,

strömen Schaulustige

zusammen und drängeln wie beim Wühltisch.

Sicher ist Cap d'Agde lustiger als Saudiarabien; aber ohne Grenzen wird das Vergnügen bald einmal schal.

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